Sonntag, Juni 01, 2008

Tantchens Geburtstag

Meine letzte Großtante ist am Samstag einhundert (in Ziffern: 100) Jahre altgeworden. Natürlich ein riesiges Ereignis, zu dem die ganze Verwandtschaft geladen war.
Das Tantchen ist die letzte noch lebende Schwester meiner Oma väterlicherseits, was ich wirklich betonen muss, da meine Verwandtschaft mütterlicherseits nicht so unbedingt brauchbar oder erwähnenswert ist.
Tantchens Geburtstage waren immer schon lustig. Früher, als sie noch alleine auf dem Dorf gewohnt hat (also bis vor ca. vier Jahren), gab es in ihrem Häuschen immer groß Party. Da kamen dann die Söhne mit Familien (mittlerweile inklusive Ur-Enkel), Nichten und Neffen, deren Kinder und Enkel, und die alten Cousinen. Und zusätzlich dann auch noch Nachbarn und Freunde. Die meisten Leute wurden im Wohnzimmer untergebracht, der Rest musste dann in der Küche sitzen.
Der Kuchen wurde immer mitgebracht. Pro Familie ein Kuchen, wobei sich dann immer gegenseitig übertroffen wurde. Aber selbst der Verlierer-Kuchen war noch absolut köstlich.
Die Ankunft war schon fast rituell. Der Kuchen wurde in die Küche gebracht, dann wurde gratuliert. Danach wurde jeder bereits Anwesende mit Handschlag begrüßt. Nichts mit Bussi-Bussi, wie das schon mal auf solchen Verwandtschafts-Treffen ist (bei Mutterns Cousinen ist das immer angesagt). Entweder ein kräftiger Händedruck, oder ein kräftiger, von Herzen kommender Knuddel (den gab's auf jeden Fall immer von Tantchens Schwiegertochter). Dann wurde ein freier Platz gesucht, und eventuell noch ein Kuchenteller besorgt.
Wurde das Kaffeetrinken eröffnet, dann ging's richtig zur Sache. Natürlich wurde auch hier, wie auf so vielen Feiern, aufgepasst, wie oft von wem der Kuchen angesteuert wurde. Wenn auffiel, dass weniger als drei Stück Kuchen vertilgt worden waren, wurde man zu mindestens noch einem kleinen Stück Torte genötigt. Alles andere wäre beleidigend gewesen oder wurde mit der Frage "Bist du auf Diät?" kommentiert.
Nach diesem Schmaus konnte man sich entweder den Spaziergängern anschließen, oder sich im Wohnzimmer lustige alte Anekdötchen aus der Verwandtschaft anhören.
Obwohl bei Tantchens Geburtstagen immer gutes Wetter war, gab es jedes Mal Gewitter, vor denen die Spaziergänger dann flüchten mussten. Ich kann michan diverse schwere Schauer erinnern, während deren wir uns irgendwo unter dichte Bäume oder Vieh-Unterstände geflüchtet hatten...
Die Anekdoten waren immer sehr unterhaltsam. Eine von Cousinen erzählte von Ihrem Vater, der ein echtes Original gewesen war, oder von diversen anderen lustigen Gestalten in der Verwandtschaft, denn davon gab es genug. Oder die alten Damen machten sich gegenseitig übereinander lustig. Ein typischer Dialog (nicht vergessen, die Damen waren so um die achtzig!) war so etwas wie:"Aua, jetzt hab ich mir mein Knie am Tischbein gestoßen!" - "Warum machst du denn so was? Das tut doch weh!"
Drumherum rannten kreischende Kinder, wurde gespült, gelacht und Unsinn gemacht. Ruhig ging es nie zu. Wozu auch? Tantchen und alle anderen hat es nicht gestört, und es war eine Familienfeier, keine Beerdigung.
Wenn dann die Spaziergänger wieder eingetrudelt waren, gab es noch Abendessen. Nicht, dass irgendjemand noch Hunger gehabt oder gar der Magen geknurrt hätte. Es gab Würstchen mit Kartoffelsalat, ob man wollte, oder nicht. Und das Essen ablehnen ging nicht. Es musste noch irgendwie hineingestopft werden, möglichst noch mit Nachschlag, um nicht schief angesehen zu werden.
Seit Tantchen im Heim wohnt (sie wollte nicht mehr alleine wohnen, weil sie doch ein wenig gebrechlich geworden ist und nicht mehr alleine aufstehen konnte, wenn sie mal hingefallen war. Das war vor vier Jahren, oder so), wird der Geburtstag in einem Saal im Heim gefeiert, und es gibt - zum Glück - kein Abendessen mehr.
Der Hunderste war natürlich auch ein Jahrhundertereignis. Und das arme Tantchen war nachmittags vor dem Kaffe schon völlig erschöpft. Eigentlich ist sie noch total fit im Kopf, aber ihr Namensgedächtnis lässt sie oft im Stich. Weil an ihrem Geburtstag schon morgens früh offizielle Termine waren, und nachmittags dann die Verwandtschaft einfiel, war sie etwas überfordert. Erkannt hat sie bei der Begrüßung kaum jemanden. Ich bin es ja gewöhnt, dass sie meinen Namen nicht kennt, aber dafür weiß sie alles andere über mich. Ebenso natürlich über alle anderen Familienmitglieder. Aber andem Tag war sie so fertig, dass nichts mehr da war.
Mein Liebster wurde (wie das in unserer Familie so üblich ist) herzlich aufgenommen. "Das ist also dein Zukünftiger. Guten Tag, ich bin die/der ...Schön, dass du da bist." Und damit war die Sache gegessen. Kein neugieriges Beschnuppern (zumal ein paar Verwandte ihn auch schon kannten), keine peinlichen Fragen. Nur zu unserem geplanten Umzug in die Schweiz wurden wir befragt. Und das nur, weil eine von Tantchens Enkelinnen auch in der Schweiz wohnt.
Bevor zur Erstürmung des Kuchenbuffets geblasen wurde, wollte Tantchens Sohn noch eine Rede halten. Seine Frau wollte meiner Mutter ins Ohr flüstern, was aber misslang, da sie wohl aufgrund der Schwerhörigkeit ihres Mannes das Verhältnis von Lautstärken nicht mehr ganz einschätzen kann. Also sagte sie für jeden (wahrscheinlich außer ihrem Mann) hörbar: "Der hatte zehn Seiten geschrieben. Da habe ich ihm gesagt, er soll das kürzen. Wen interessiert das alles denn?" Keiner hat gelacht, weil die Rede schon in Gange war, aber alle haben sich grinsend angesehen. Und so schlimm war es auch gar nicht, weil eigentlich nur Tantchens 100 Jahre in knapp 10 Minuten gefasst waren.
Dann gab es den Kuchen. Wie üblich kamen viele mit zwei Stücken auf dem Teller zum Platz zurück, damit sie nicht so oft laufen mussten. Ich glaube, es hat niemand weniger als 3 Stücke Kuchen gegessen.
Danach lief alles seinen gewohnten Gang. Einige machten sich auf den Weg nach draußen, andere blieben und redeten.
Weil aber der hundertste Geburtstag etwas besonderes ist, kam der örtliche Posaunenchor mit dem örtlichen Chor, um ein Ständchen zu bringen. Das Gespiele und Gesinge war erträglich, und zwischendurch erklärte die Leiterin, was sie bewogen hatte, diese Lieder auszusuchen. Bis irgendwann Tantchen sagte: "Ich habe eigentlich nichts verstanden." Alles lachte, bis auf die Leiterin, der das sichtlich unangenehm war. Aber irgendwann waren die Leute auch wieder weg.
Meine Schwester und meine Mutter hatten versprochen, ein bisschen Musik zumachen. Glücklicherweise hatten sie sich entschieden, erst nach dem Chorauftritt zu spielen. Alle waren total begeistert, und auf Tantchen hat die Musik eine tiefere Wirkung gehabt: als kurze Zeit später zum Aufbruch geblasen wurde, hat sie alle wieder erkannt. Mein Bruder durfte sich sogar noch einen Rüffel abholen, weil er so lange nicht mehr da gewesen war.
Und wie immer war es ein Abschied von der Verwandtschaft bis zum nächsten Jahr auf Tantchens Geburtstag. Etwas anderes kann ich mir gar nicht vorstellen.