Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Amour Fou kennen zu lernen, vor ein paar Monaten. Sie fing an, wie sich das für eine gute Amour Fou gehört: verzweifelt und von Sinnen. Ich hatte gerade meinen neuen Job bekommen, was aber hieß, dass ich aus meiner Heimatstadt wegziehen musste. Weg von meiner Familie, weg von meinen Freunden, raus aus meinem sozialen Umfeld, raus aus meiner Wohnung. Einerseits war ich überglücklich, wieder Arbeit zu haben, andererseits war ich todunglücklich, alles, was ich liebte, zurücklassen zu müssen.
An genau diesem Abend gab eine Freundin von mir ihre Kneipe auf und hatte zum Restetrinken eingeladen. Anfangs habe ich mich noch zivilisiert verhalten und brav an meinem Whiskey-Cola genippt. Doch irgendwann war dann der Alkoholspiegel so hoch, dass es kein Halten mehr gab. Es gab nur noch Feiern und hoch die Tassen. Meine Stimmung schwankte die ganze Zeit zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, doch da mich fast alle Anwesenden schon recht lange kannten und wussten, wie nahe mir dieser anstehende Umzug ging, war mir das egal.
Und dann war da dieser Typ. Genau der Typ Mann, auf den eine Frau abfährt, wenn sie verrucht sein will: ein absoluter Bad Boy. Lange Haare, tätowiert, Biker-Kluft. Sein Alter habe ich auf Mitte zwanzig geschätzt, womit ich etwas daneben lag, wie sich später herausstellen sollte. Aufgrund meines Alkoholkonsums fehlen mir wichtige Informationen bezüglich des genauen Tatherganges, aber das Ergebnis war klar. Ich habe den Typ mit nach Hause geschleppt. Ein klarer Verstoß gegen meine eigenen Prinzipien. Aber die waren genauso betäubt wie weitere fünfundachtzig Prozent meines Gehirns, die nicht mehr brauchbar waren. Was noch gut funktionierte war offensichtlich der Sextrieb...
Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Wir haben deutlich gegen ONS-Regel Nummer eins verstoßen: nach einem ONS wird nicht gekuschelt. Allerdings habe ich ihn nicht nach seiner Handynummer gefragt, und ihm meine auch nicht aufgeschwatzt. Ich dachte echt, dass ich den Kerl sicher nicht wiedersehen werde. Dass ich mich grundlegend getäuscht hatte, zeigte sich zwei Tage später, als es an meiner Tür klingelte und der Typ mit den Worten: "Du hast gesagt, ich könnte dich gerne mal besuchen kommen." davorstand.
Von da an ging es richtig ab. Er ließ keine Gelegenheit aus, zu mir zu kommen. Als ich eine Woche weg war rief er mich oft abends an. Und ich verliebte mich. Hey, ich bin eine Frau! Vögeln total ohne Gefühle geht bei mir nicht und verursacht bei mir fürchterliche Bauchschmerzen. Ist also physisch für mich unmöglich. Aber er empfand auch etwas für mich, was er mir aber nur sagte, wenn er betrunken war.
Aufgrund des Altersunterschiedes sind wir nie zusammen weggegangen, wir sehen zwar beide aus wie Mitte zwanzig, sind es aber beide nicht. Ich bin dreißig, und er war zu dem Zeitpunkt achtzehn. Und das ist der Punkt, wo die Amour Fou einsetzt. Fast zwölf Jahre Altersunterschied, unterschiedlichstes Bildungsniveau, völlig andere Lebenseinstellung. Von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Aber ich habe diesen Jungen geliebt. Verzweifelt, innig und aufrichtig. Ich lebte mit seinen nächtlichen, wochenendlichen Besuchen, wenn er volltrunken vor meiner Tür stand und nur noch in mein Bett wollte. Ich lebte mit seinen nächtlichen Anrufen, wenn ich am Wochenende nicht heimgefahren war. Er raubte mir den Schlaf, aber er liebte mich ebenso verzweifelt wie ich ihn.
Eine Nacht war er zu betrunken, um allein meine Treppe hochzusteigen und von oben bis unten voll (glücklicherweise schon trockenem) Matsch. Er war kaum noch in der Lage, ein sinnvolles Wort von sich zu geben. Nach dieser Nacht habe ich ein paar Tage nichts von ihm gehört, bis er beschämt anrief und sich in aller Form entschuldigte. Seit der Nacht hat er darauf geachtet, nicht fast besinnungslos bei mir zu klingeln. Er ist fast zum Gentleman geworden.
Gescheitert sind wir letzten Endes an der Entfernung. Obwohl er immer den starken Mann spielt, hat er sich nicht getraut, die weite Strecke zu fahren, um mich an meinem neuen Wohnort zu besuchen. Und weil die Einsamkeit für mich unerträglich war, weil ich aus Angst vor seiner Eifersucht keine neuen Menschen kennen lernen wollte, habe ich die Sache beendet. Das klingt jetzt weitaus einfacher, als es in Wirklichkeit war.
Mehrere Male haben wir uns fest vorgenommen, jeglichen Kontakt abzubrechen, weil wir sowieso keine Zukunft hatten. Doch ebenso oft ist einer von uns wieder schwach geworden. Wir konnten einfach nicht voneinander lassen. Nach ein paar Tagen ohne Kontakt war die Sehnsucht unerträglich, es ging einfach nicht ohne den anderen.
Um einer richtigen Amour Fou gerecht zu werden, muss das Ende schrecklich sein. Und das war es auch. Es war grauenhaft. Aufgrund der Entfernung konnte ich nur am Telefon mit ihm sprechen und ihm sagen, dass es meine Einsamkeit erträglicher machen würde, wenn ich nicht mehr darauf hoffen würde, dass er doch noch irgendwann vor meiner Tür stehen würde.
Es gab viele Tränen meinerseits, gutes Zureden seinerseits, ich habe mich betrunken, um den Schmerz erträglicher zu machen, geheult, gebettelt, er solle zu mir kommen. Ich habe mich erniedrigt, ihn angefleht, und letzten Endes dann doch ein Ende provoziert.
Doch wer jetzt denkt, es wäre vorbei gewesen, der irrt. Noch Wochen später hat er immer wieder angerufen, mir gesagt, der Altersunterschied sei ihm egal, er wolle mich zurück. Und ich habe gehofft, er würde zu mir kommen. War ich daheim, habe ich bei jedem Motorrad, das die Straße entlangfuhr, gehofft, es würde vor meiner Tür Halt machen. Aber wir haben uns nie wieder gesehen, mein Junge und ich.
Eine Geschichte habe ich für und über ihn geschrieben, die im Folgenden zu lesen ist:
Er roch immer ein bisschen nach Motoröl. Nicht viel, es war durchaus sehr angenehm. Wenn er mit seinem Motorrad die Straße zu meiner Wohnung hinunter gebraust kam, wehte sein langes, dunkelrotes Haar wie eine Fahne hinter ihm her. Er sah aus wie brennendes Ebenholz: schwarzes Motorrad, schwarze Kleidung, schwarzer Helm, und dazu diese Haare von der Farbe reifer Kirschen. Die Haare waren es vor allen Dingen, die nach Motoröl rochen. Seine Hände waren immer schwarz, das Öl hatte sich in den Rillen der Finger und unter den Fingernägeln festgesetzt. Doch wenn er bei mir war, war ich wie blind und es machte mir nicht im Geringsten etwas aus.
Er parkte sein Motorrad, nahm den Helm ab, und kam zu meiner Wohnungstür. Den ganzen Tag hatte ich schon diesen Moment fiebernd erwartet. Noch bevor er klingeln konnte öffnete ich die Tür und schloss ihn in die Arme. Seine Wärme und seine Nähe ließen meine Alltagssorgen von mir abfallen wie altes, welkes Laub.
Wir gingen in mein Wohnzimmer, setzten uns, und ich ließ ihn erzählen. Es interessierte mich nicht sehr, was er sagte. Er sprach von Motorrädern, Reparaturen und erzählte lustige Anekdoten. Ich lachte mit, als hörte ich zu, aber eigentlich lauschte ich nur dem Klang seiner Stimme. Ich beobachtete, wie seine Lippen Worte formten, spürte die Resonanz seiner Stimme in meiner Brust. Der tiefe, sonore Tonfall war Balsam für meine Seele, ließ mich alles andere vergessen. Ich existierte nur noch, um in seinen Armen zu liegen. Dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das er mir gab, hatte ich einfach schon viel zu lange vermisst.
Es erstaunte mich immer wieder, wie schön er war. Sein Profil hätte jede römische Statue vor Neid zu Staub zerfallen lassen. Die hohe, klare Stirn, die mandelförmigen Augen unter perfekt geformten Augenbrauen, die gerade Nase, die hohen Wangenknochen, die geschwungenen, schmalen Lippen, an denen ich nun mit meinen Augen hing, das markante Kinn mit dem kleinen Grübchen.
Seine Augen waren das Schönste, das ich je gesehen hatte. Umgeben von dunklen Wimpern, warm und ausdrucksvoll, von einer Farbe wie Haselnüsse, die gerade überreif vom Strauch gefallen sind.
Das lange Haar war so dicht und dick, wie es sich jede Frau gewünscht hätte. Wie oft hatte ich versucht, annäherungsweise die Farbe seiner Haare durch den Einsatz von Chemikalien zu erreichen, dieses tiefe, dunkle Rot, das an Winterfeuer und trockenen Bordeaux erinnert. Wenn wir uns liebten, vergrub ich mein Gesicht in ihnen, um ihren Geruch tief in mich aufzunehmen und ihn so intensiv wie möglich zu spüren.
Seine Haut war so zart wie die eines neugeborenen Babys. Warm und weich, wenn wir uns in den Armen lagen, heiß und schweißnass, wenn wir uns vereinten.
Sein Körper war genau das, wonach ich gesucht hatte: kein Adonis, kein Muskelprotz, dennoch stark genug, daß ich mich in seinen Armen fallen lassen konnte, ohne das Risiko einzugehen, auf dem Boden einzuschlagen.
Die Zärtlichkeit seiner Hände war nicht mehr zu übertreffen. Obwohl ich vor ihm einige Liebhaber gehabt hatte, war darunter keiner gewesen, der mich sanfter oder liebevoller berührt hatte. Seine Hände schwebten wie Schmetterlinge über meinen Körper, suchten die Stellen, die mich leise aufstöhnen ließen.
Die körperliche Liebe zwischen uns war unschuldig wie der neue Morgen. Er war zu zurückhaltend, um mehr zu fordern, ich wollte ihn nicht bedrängen. So haben wir uns stundenlang geliebt, nachts im Dunklen, wie er es mochte, weil er so schüchtern war, tagsüber im Hellen, wie ich es mochte, da ich ihm so in die Augen sehen konnte.
Die Zeit mit ihm war wundervoll. Seine Nähe beraubte mich sämtlicher Sinne, seine Anwesenheit war ein Geschenk.
Er war der Mann, von dem ich schon immer geträumt hatte. Mein Leben lang hatte ich nach ihm gesucht, und ausgerechnet jetzt musste ich ihn finden. Im größten Chaos meines Lebens, kurz vor meinem Umzug in eine fast vierhundert Kilometer entfernte Stadt. Doch auch ohne diese Distanz wäre unsere Liebe dem Untergang geweiht gewesen. Wir hatten von Anfang an nicht den Hauch einer Chance.
Ich glaube, daß die unglücklichste Art der Liebe nicht die einseitige, unerwiderte Liebe ist, sondern die, die sofort nach ihrem Erwachen zum Tode verurteilt ist. Die Sehnsucht und das Verlangen, das dennoch entsteht, sind eine Folter, die ich nicht einmal meinem ärgsten Feind wünsche.